Auf eigene Ideen bauen - oder: Zurück zur Vernunft

Messen sind eines der wenigen Felder, wo Unternehmen überhaupt noch die Chance haben, neue Potenziale zu erschließen und neue Kontakte zu schaffen.

Der jüngste Rückgang der Besucherzahlen ist nur bedingt wirtschaftlich begründet. Für Holger Rust, der am Institut für Psychologie und Soziologie an der Universität Hannover lehrt, ist er ein eher "natürlicher Vorgang". Den erklärte auf der Messe-Fachtagung in Wiesbaden wie folgt: "Wir reden so viel davon, dass das Wesentliche heute unsere Ideen sind, unsere Dienstleistungen, die wir zusätzlich entwickeln. Wir reden über Dinge, die man noch nicht ausstellen kann, die noch nicht greifbar sind. Die wesentlichen Rohstoffe der Wirtschaft des 21. Jahrhunderts sind Kommunikation untereinander, Wissen und Ideen. Da halte ich es nicht für sehr erstaunlich, dass wir nicht mehr ganz so produktbezogen sind, sondern darüber nachdenken, was wir als Menschen für Menschen tun können. Sicher werden wir eines Tages unsere Dienstleistungen und Ideen, das Wissen, die Kommunikationsnetzwerke ausstellen oder auf neuen Messen miteinander darüber reden können."

Da wir mit Zukünften zu tun haben und niemand so wisse, was das ist und jeder Angst davor habe, tauchten jetzt "jede Menge Figuren auf, die uns beibringen wollen, wie das so geht." Erstaunlich viele Führungspersönlichkeiten "klammerten sich an Trivialitäten, die meist nicht über den Zitatenschatz eines alten Hauskalenders hinausreichten", sagte Rust. "Erfolgreiche Unternehmen haben schlicht den Mut, nicht den Trendgurus und ständig mit Tipp-ex-beschichteten Zähnen grinsenden Power-Gurus hinterherzurennen, nicht die Second hand-Visionen, die aus Zeitungen und Zeitgeistmagazinen aufgeklaubt wurden, nachzuäffen, sondern selbst zu überlegen, wie sie den vage geahnten Bedürfnissen ihrer Kundschaft vorauseilen können." Trendforscher seien Pseudowissenschafter, die zeigen wollen, wo es morgen langgeht - zusammengesetzt aus Zeitungen von gestern. Ob Wippermann, Faith Popcorn oder Matthias Horx. Rusts Kritik: "Wir reden nicht mehr mit den Menschen, die unsere Kunden sind. Wir reden nicht mehr darüber, dass wir Ängste, Hoffnungen, Freuden, Gedanken und Intelligenz haben. Nein, wir nehmen uns stattdessen die nächsten Gurus."

Das wirklich Wesentliche hätten wir in den letzten Jahren übersehen: die eigene Vernunft. Sie stelle das Merkmal des Erfolgs her, die Zusammenarbeit mit den Kollegen und den Leuten, die uns führten oder denen, die wir selber führten. Seine Forderung: die Besinnung auf eigene Kraft und Intelligenz. Uns sei die Technologie unserer Märkte bekannt und wir wüssten, was möglich ist. Die vorauseilende Marktorientierung, der Lernprozess, den Unternehmer dem Markt angedeihen ließen, sei der Kern des vorausschauenden Managements. Darin liege auch das Geheimnis des Lernens und der Intelligenz.
Es seien nicht die Trendforscher und Gurus, die das Neue finden, sondern Unternehmer oder Führungskräfte, die in der Lage sind, mit ihren Mitarbeitern gemeinsam, die "schwachen Signale" der Zukunft in den gegenwärtigen Entwicklungen zu entdecken - exklusiv mit einer eigenen Fragestellung.

Kein Trendforscher habe zum Beispiel den gigantischen Erfolg in der Automobilindustrie mit Mini-Vans vorausgesehen. Es war ein Ford-Mitarbeiter, Hal Sperlich, der den ersten Van entwickelt hat. Der wusste, was technologisch machbar war. Nur: Ford wollte das Auto nicht bauen. Also ging Sperlich zu Chrysler. Sony und andere großen Unternehmen arbeiteten nach dem gleichen Motto: "Wir zeigen euch, liebe Kunden, was geht und wecken damit die Wünsche, die ihr selbst noch nicht artikuliert habt, die aber in euch sind." Unternehmer und Manager seien es, die Trends produzieren. Sie gestalten die Zukunft gemeinsam mit ihren Mitarbeitern, in einer Atmosphäre vertrauensvoller Kommunikation und gemeinsamer Arbeit an Lösungen für ihre Kunden.

Wissenschaftlich soziologisch betrachtet sei die Situation "eigenartig". Holger Rust: "Wir sind ja auch diese Leute, die wir ansprechen wollen. Wir sind ja selber Markt. Wir bewegen uns doch auf der Messe der Möglichkeiten, der Messe der Wirklichkeit." Diese Wirklichkeit lasse sich mit wissenschaftlichen Methoden systematisch in den Griff bekommen. Das seien die des Beschreibens, des Verstehens, des Erklärens und daraus Prognostizierens. Man könne sie mit Universitäten und Fachhochschulen in großen Projekten, aber auch im Alltag anwenden.
Alles eine Aufgabe der Kommunikation. Aber es brauche Mut, auf die anderen zuzugehen. "Wir müssen in der Lage sein auch Leute, von denen wir es überhaupt nicht vermuten, mit ihren Ideen zuzulassen. Marktsichten von Unternehmen können sich verändern. An den Stellen müssen wir miteinander reden." Nur einige Beispiele: Junge Leute redeten heute über Gesundheit wie früher die alten auf der Parkbank. Die Alten seien im Cabrio unterwegs und tragen Turnschuhe wie die jungen. Das Windschot sei für den "alten Markt" erfunden worden. Die junge Designerin aber halte damit ihre Frisur in Form.

"Wir haben Märkte, die wir bedienen müssen. Wir haben Märkte, die turbulent sind, in denen Alter, Geschlecht, Lebensentwürfe und Lebensstile kreuz und quer durcheinander gehen die darauf warten, dass Unternehmer etwas unternehmen und ihnen etwas geben", so Rust. Aus der intelligenten Zusammenschau der Unternehmen entstehen neue Dinge. Unternehmen, die als Häuslebauer antraten und heute Architekturkonzepte verkaufen. Das Unternehmen in der Schweiz, das lange Twin-Sets genäht hat und heute der wichtigste Hersteller für unbrennbare und sonstige Fleeceartige Freizeitkleidung ist. "Und immer waren es Dinge, die man zunächst nicht ausstellen konnte: Gespräche, die Kommunikation, die Ideen, die Konzentration auf das Wesentliche; die Tatsache, dass wir intelligente Menschen sind, die etwas zu tun haben: etwas zu unternehmen und etwas zu entwickeln."

All diese Beispiele zeigten: Das Innovationsmanagement, das zu betreiben sei, habe in erster Linie was mit Kommunikation und menschlicher Wärme zu tun hat - auch wenn sich das romantisch anhöre. Zukunft sei ein stetig nachwachsender Rohstoff, der aber keine Form habe. Rust: "Form geben wir ihm auf Messen und durch unsere Ideen." Messen setzten Prozesse in Gang - und sie helfen, die Märkte für morgen zu erschließen. Dafür seien Messen sehr geeignete Instrumente, sie würden nur zu wenig dafür genutzt.
Was ist wirkliche Kommunikation? Die Frage beantwortet der Hochschullehrer schnell: "Für ein Unternehmen ist Kommunikation der Lebensnerv. Kommunikation mit den wertvollsten Beratern, die sie haben: den Mitarbeitern." Und Unternehmenskultur bedeutet für Rust, dass sie auch die Gelegenheit haben, miteinander zu reden. Und mit den Kunden. Sie nicht nur zu fragen, was sie auf der Messe wollen, sondern auch den Dingen zu fragen, die sie vermissen. Nach dem, was sie morgen erwarten und sie der Schuh drückt. "Auf der Messe sind die Kunden offen von der Kommunikation." Und der Besucher sehe, das Unternehmen greife nicht nur nach seinem Geld, sondern kümmere sich um seine Belange. Holger Rust: "Aus Ideen entstehen manchmal auch Produkte."

m+a report Nr.3 / 2004 vom 23.04.2004
m+a report vom 23. April 2004