Die Chancen sind greifbar

Russlands Wirtschaft verzeichnet im fünften Jahr hintereinander deutliches Wachstum. Die Bürokratie nimmt ab, die Kaufkraft steigt.

"Atemberaubend" sei die wirtschaftliche Entwicklung und derzeit die deutsch-russischen Beziehungen "kaum verbesserbar", so der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Regierungskonsultationen mit Präsident Wladimir Putin Anfang Oktober letzten Jahres in Jekaterinburg.
Grundlage dieser Situation sind die von Präsident Putin im fünften Jahr konsequent vorangetriebenen Reformen. Regierung und Parlament bringen in großem Tempo Veränderungen auf den Weg. In Russland bilde sich eine sogenannte "gelenkte Demokratie" heraus, die bei kritischen Beobachtern auf Vorbehalte stoße. Für die wirtschaftliche Zusammenarbeit erwiesen sich diese Entwicklungen nahezu ausschließlich als positiv, resümiert der Verband der Deutschen Wirtschaft in der russischen Föderation in seinem Jahresbericht 2003.

Die Rahmenbedingungen für Investitionen hätten sich vor allem durch ein modernes Recht zur Gründung von Kapitalgesellschaften, die Möglichkeit des Erwerbs von Grund und Boden durch Ausländer, und niedrige Gewinn- und Einkommenssteuersätze verbessert. Daneben geben der neue Zollkodex und die beginnende Förderung von klein- und mittelständischen Unternehmen Anlass zu Hoffnung. Schritte der Regierung zur Entbürokratisierung ließen darauf hoffen, dass Aufsichtsbehörden in Zukunft die unternehmerische Tätigkeit weniger störten und weniger für Korruption anfällig sein werden.
Dennoch müsse Russland weitere Reformen zügig angehen und die neuen Gesetze auf allen Ebenen konsequent umsetzen. Angesichts der Historie dürfe man aber keine Wunder erwarten, so der Verband: In kaum mehr als zehn Jahren könne sich keine perfekte Marktwirtschaft und Demokratie nach westlichem Muster herausbilden. Das Riesenland müsse seinen eigenen Weg gehen. Zu häufig werde es an westlichen und teilweise sogar strengeren Maßstäben gemessen. Kaum lasse die Reformgeschwindigkeit etwas nach, sei von Stillstand die Rede. Dabei werde vergessen, dass auch im Westen die Privatisierung der staatlichen Monopole erst im letzten Jahrzehnt eingeleitet wurde ...

Nachdem die Vollmitgliedschaft der Russischen Föderation im Kreis der G-8 angekündigt und Russland durch die EU und die USA als Marktwirtschaft anerkannt worden ist, wurde es im Jahr 2003 in die Internationale Arbeitsgruppe zur Bekämpfung der Geldwäsche (FATF) aufgenommen. Schwieriger als zunächst angenommen gestalten sich dagegen die WTO-Beitrittsverhandlungen. Dennoch könne man von einem baldigen Beitritt ausgehen, so der Verband der Deutschen Wirtschaft in der russischen Föderation.
Von internationalem Interesse dürfte die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums zwischen der Russischen Föderation, Weißrussland, der Ukraine und Kasachstan sein. Die anderen GUS-Staaten sind zum Beitritt eingeladen. Es sei davon auszugehen, dass sich durch dieses Bündnis die Bedeutung Russlands als Investitionsstandort weiter erhöhen wird.
Russlands Wirtschaft verzeichnet inzwischen im fünften Jahr hintereinander ein deutliches Wachstum, obwohl weltweit seit geraumer Zeit Konjunkturflaute herrscht. In den letzten drei Jahren betrug das Wachstum 20 %. Insgesamt stehe Russlands Wirtschaft jedoch noch auf wackligen Beinen und bedürfe dringend der weiteren Modernisierung. Die tragende Säule der wirtschaftlichen Erfolge bilden Einkünfte aus dem Ölexport. Sie allein sind jedoch kein ausreichender Garant für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Dafür sind umfangreiche Investitionen der Unternehmen in die Entwicklung neuer Erzeugnisse und die Einführung neuer Technologien erforderlich. Gerade hier bestehen jedoch noch erhebliche Defizite.

Eine sich besonders dynamisch entwickelnde Branche ist der Einzelhandel. Dies ist vor allem der stark steigenden Kaufkraft der russischen Bevölkerung zu verdanken, die allein im Jahr 2002 um ein Drittel zulegte. Beachtlich ist dabei, dass bis zu 85 % der Einkommen für Konsumzwecke verwendet werden. Der russische Gesamteinzelhandelsumsatz umfasst circa 120 Mrd. US-Dollar und wuchs in den vergangenen beiden Jahren zwischen acht und zehn Prozent. Moskau ist der Wachstumsführer und Einzelhandelsplatz Nummer eins in Russland und Osteuropa.1 In Moskau liegen die Einkommen weit über dem russischen Durchschnitt (rund 330 USD gegenüber 168 USD). Fast ein Drittel des gesamtrussischen Warenumsatzes wird dort realisiert.

Russlands Außenhandel floriert, nicht zuletzt wegen der anhaltend hohen Ölpreise. Allein im ersten Halbjahr betrug der Außenhandelsüberschuss über 30 Mrd. USD. Die Außenhandelsstruktur sei allerdings nach wie vor zu rohstofflastig, so der Verband: Über die Hälfte der Exporte entfallen auf Energieträger, weitere 15 % auf Metallprodukte. Hingegen machten Maschinen und Anlagen nur knapp 8 % der russischen Exporte aus. Letztere überwiegen umgekehrt bei den Einfuhren ebenso wie High-Tech-Produkte. Die Ausfuhren werden überwiegend in USD fakturiert. Umgekehrt bezieht das Land über ein Drittel seiner Importe aus der EU. Die Anspielung Putins, die Ölexporte zukünftig möglicherweise in Euro zu verrechnen, ist nicht nur ein geopolitischer Schachzug. Vielmehr kommen handfeste ökonomische Sachzwänge zum Tragen: Zahlreiche Unternehmen gingen im Verlauf des letzten Jahres vom Dollar zum Euro über.

Der russische Staatshaushalt verzeichnet seit einigen Jahren regelmäßig Überschüsse.
Die guten Eckdaten der russischen Wirtschaft führten auch zu einer Höherstufung Russlands in verschiedenen Länderratings. Im FDI Confidence Index von A.T. Kearney hat Russland ebenfalls einen Riesensprung von Platz 17 nach vorne gemacht und rangiert nun auf Platz 8 unter den attraktivsten Ländern für Auslandsinvestitionen (nur knapp hinter Deutschland, das auf Platz 6 liegt). Die UNO-Organisation für Handel und Entwicklung Unctad beobachtet eine deutliche Zunahme von Green-Field-Projekten und Russland zählt dabei nach China und den USA zu den drei wichtigsten Zielgebieten weltweit.
Mehr ausländische Direktinvestitionen werden zu Erreichung des überaus ambitionierten Putin-Ziels, das russische Sozialprodukt binnen einer Dekade zu verdoppeln, auch dringend benötigt werden. In Russlands Führungselite herrscht Einigkeit darüber, dass für langfristiges Wachstum die Förderung erfolgsträchtiger Branchen notwendig ist. Angestrebt wird bis 2005 ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von circa 5 %. Wenn die Strukturreformen erst einmal greifen, wird es mittelfristig - so die optimistische Regierungsprognose - Wachstumsraten der russischen Volkswirtschaft von bis zu 10 % jährlich geben. Russlands Wirtschaft dürfte sich innerhalb von zehn Jahren verdoppeln, so der Verband.

Von dem beachtlichen russischen Wachstum profitiert auch die deutsche Wirtschaft. Sie ist der größte Gesamtinvestor in der Russischen Föderation. Im ersten Halbjahr 2003 flossen knapp 3 Mrd. USD (doppelt soviel wie aus den USA) dorthin. Bei den Direktinvestitionen schob sich Deutschland inzwischen auf Platz vier vor. Angesichts des gestiegenen Interesses deutscher Unternehmen könnte sich dies bald weiter verbessern. Aufgrund des hohen Investitions- und Modernisierungsbedarfs in Russland gibt es erhebliches Potenzial. Maschinen und Anlagen rangieren deutlich auf Platz eins der deutschen Ausfuhren. Auf den Plätzen zwei und drei folgen Kraftfahrzeuge und Elektrotechnik.

Die Chancen auf dem russischen Markt sind greifbar geworden, ist der Verband sicher und fordert die deutsche Wirtschaft auf, die rasanten Entwicklungen dort nicht zu verschlafen! Die Konkurrenten aus den westlichen Industrienationen (zum Beispiel USA und Italien) träten verstärkt in den russischen Markt ein. Auch die einheimischen Unternehmen würden konkurrenzfähiger. Politische Stabilität, konsequente Wirtschaftsreformen, ein Mehr an Transparenz und Verlässlichkeit, ein beachtliches Wirtschaftswachstum sowie eine neue Generation von hervorragend ausgebildeten jungen Leuten und ein Wandel in der Unternehmenskultur - das seien die positiven Kennzeichen des Russlands von heute. Darauf lasse sich ein geschäftliches Engagement gründen.

m+a report Nr.3 / 2004 vom 23.04.2004
m+a report vom 23. April 2004