Lieber wertige Markenartikel als billige Schnäppchen

Wer es sich leisten kann, lebt nach dem Motto: "Wir sind zu reich, um wenig auszugeben." Der private Konsum gewinnt als wichtige Konjunkturstütze an Bedeutung.

Deutsche Hersteller von Konsumgütern blicken interessiert nach Russland: Obwohl im Durchschnitt weniger verdient wird, frönen die dortigen Verbraucher ihrer Shoppingleidenschaft exzessiv. Angesichts steigender Einkommen und eines hohen Nachholbedarfs scheinen Nachfragezuwächse in den nächsten Jahren programmiert. Verlockende Aussichten also für westliche Anbieter. Plattformen, um sich angemessen ins Licht zu setzen, sind die Messen vor Ort. Russische und internationale Veranstalter bringen von Jahr zu Jahr neue, beziehungsweise modifizierte, Veranstaltungen auf den Markt - manche schaffen es, den gewachsenen Ansprüchen gerecht zu werden.
Nahezu alle führenden deutschen Messegesellschaften haben inzwischen ihre Vertretungen, Kernprodukte und Formate auf dem russischen Markt platziert oder sind gerade dabei. Aktuelles Beispiel für den aller Voraussicht nach erfolgreichen Export eines internationalen Branchenhighlights ist die Sportartikel und Sportmode Messe ispo der Messe München, die vom 14. bis zum 17. September in Moskau Premiere hat. Erfolgsprodukte der Messe Düsseldorf wie die Haustechnikmesse SHK, die Modemesse Collection Première Moscow (CPM) und die Kosmetikausstellung Intercharm oder die Konsumgüterausstellung Ambiente der Messe Frankfurt haben sich als führende Branchentreffs bereits etabliert.

Kein Wunder, geraten doch auf Moskauer Messen deutsche Aussteller derzeit ins Schwärmen. Insbesondere Hersteller hochwertiger Konsumgüter registrieren einen enormen Zulauf. Ob Autos, Handys, Haushaltsgeräte, Möbel, Mode oder Kosmetik - nahezu jedes Segment verzeichnet traumhafte Wachstumsraten. Nach der Shoppingtristesse der Sowjetzeit und einer durch die 1998er-Krise abrupt gestoppten Aufbruchseuphorie sind vor allem in den Großstädten ähnliche Verhaltensmuster erkennbar wie in entwickelten Marktwirtschaften.

Die neue Verbrauchergeneration ist selbstbewusst, gut informiert und anspruchsvoll. Wer es sich leisten kann, guckt beim Shoppen auf alles, nur nicht auf den Preis. Für die neue Oberschicht viel wichtiger sind Trendsetting, Exklusivität, Luxus und Prestige. Und auch viele Durchschnittsverdiener gönnen sich lieber einen hochwertigen Markenartikel als mehrere Schnäppchen vom Wühltisch. Der zum Sparen gezwungene Teil der Bevölkerung geht ohnehin kaum in die neuen Einkaufszentren, sondern wie gehabt auf die offenen Märkte.

Die Binnenkonjunktur hat sich in den letzten Jahren als wesentliche Konjunkturlokomotive erwiesen. Der Einzelhandel besticht mit zweistelligen Umsatzzuwächsen: Schon 2004 knackten die Retailerlöse annähernd die 200 Mrd. US$-Marke und übertrafen das Vorjahresergebnis um mehr als 12 %. Dieses Jahr wird mit einem Plus von über 10 % gerechnet, mittelfristig mit bis zu 8,5 %. Auf Moskau entfallen etwa ein Viertel der Gesamtumsätze. Angeregt wird die Konsumlust durch die steigenden Realeinkommen. Nach offizieller Statistik hatten die russischen Verbraucher 2004 über 8 % mehr im Portemonnaie als 2003. Auch in den nächsten Jahren werden sich die Zuwächse in diesen Dimensionen bewegen.
Zwar reichen die durchschnittlichen Monatslöhne mit derzeit umgerechnet circa 250 EUR längst nicht an das Niveau westeuropäischer Länder heran. Und auch die regionalen Unterschiede sind beträchtlich. Doch klettern die Gehälter in bestimmten Bereichen viel rasanter nach oben als es statistische Durchschnittswerte suggerieren. Vor allem begehrte Führungskräfte und rare Spezialisten bekommen die Erhöhung ihres Marktwertes unmittelbar in der Lohntüte zu spüren - mit jährlichen Aufschlägen von durchschnittlich 20 % bis 30 %. Die Besserverdiener sind es auch, die sich häufig für etablierte Importlabel entscheiden.

Längst ist es nicht mehr nur die kleine Schicht der Superreichen (knapp 1 % der Gesamtbevölkerung), um die westliche Markenhersteller buhlen. Anbieter von Luxuswaren sind mit dem Häuflein der "Neuen Russen" und deren Konsum-Motto "Wir sind zu reich, um wenig auszugeben" sehr gut bedient. In den Moskauer Boutiquen internationaler Luxusgüter-Gurus wird inzwischen mehr als in London oder New York umgesetzt. Der Binnenkonsum stützt sich auf die breitere Masse des wieder erstarkten Mittelstandes.

Zwar zählen Soziologen lediglich 20 % der russischen Familien zur Mittelklasse. In westlichen Marktwirtschaften liegt dieser Anteil bei etwa 60 bis 70 %. Fast 70 % der Bevölkerung durchlaufen aber gerade die Übergangsphase zwischen arm und mittelklassig, wobei russische und westliche Mittelschicht zwei Welten sind. Haushalte mit einem Pro-Kopf-Einkommen von über 400 EUR zählen in Russland zur Mittelklasse.
Beim Shopping leben trotzdem weit mehr Mittelständler ihren Hang zum Luxus aus. Zudem kaufen immer mehr Verbraucher auf Pump. In den nächsten fünf Jahren rechnen Experten mit einem Anstieg der Konsumentenkredite um jährlich bis zu 30 %. In Umfragen erklären schon mehr als 30 % der Teilnehmer, Kredite in Anspruch genommen zu haben. Deutlich über 30 % wollen noch in diesem Jahr ein Darlehen aufnehmen. Ihren Traum vom neuen Pkw erfüllen sich 40 % bis 45 % der Russen per Ratenkauf.

Obwohl im Durchschnitt weniger verdient wird als in anderen osteuropäischen Ländern, wird von bestimmten Warengruppen mehr konsumiert. Im repräsentativen Warenkorb befinden sich überdurchschnittlich viele Lebensmittel. Für Kleidung und Schuhe geben russische Konsumenten im Verhältnis zu ihren Einkommen mehr aus (etwa 14 % ihrer Haushaltsbudgets) als in ost- und sogar in westeuropäischen Ländern. In Schönheits- und Pflegeprodukte investiert die russische Damenwelt etwa 12 % ihrer Einkommen - doppelt so viel wie westliche Verbraucherinnen.
Analysten erklären die Konsumbereitschaft damit, dass die Einkommen für Anlagemöglichkeiten wie Aktien oder Immobilien noch nicht ausreichen. Das Bankensystem hat den Schatten der Finanzkrise ohnehin noch nicht abgeschüttelt und ruft bei vielen mehr Skepsis als Vertrauen hervor. Die Konsumausgaben werden mit steigender Kaufkraft auch in absoluter Hinsicht in einigen Jahren an die Marken führender Industrienationen heranreichen, sagen Experten. Bis dahin bleiben die meisten Konsumgütermärkte auf Wachstumskurs.

Erst kürzlich bestätigte auch eine Studie der Stockholmer Schule für Ökonomie die gute Konsumentenstimmung im Land. Vor allem junge (bis 29 Jahre), kinderlose Single-Frauen haben sich das Lebensmotto "Lebe jetzt und heute" angeeignet. Für die Anbieterriege erfreulich: Vor allem die Russinnen sind Werbebotschaften gegenüber sehr aufgeschlossen.
Eine aktuelle Untersuchung der Agentur Comcon Media ergab, dass 95 % der russischen Frauen auf Promotionaktionen positiv reagieren und aktiv an ihnen teilnehmen. Die Pflege der Markenkultur durch die Hersteller wird gar von russischen Kunden erwartet und so verbucht die Werbebranche Zuwächse von über 30 % jährlich. Constanze Kachcharova

m+a report Nr.5 / 2005 vom 12.08.2005
m+a report vom 12. August 2005