Virtuelle Messe Schlagwort, Spielwiese oder Strategiemodell?

"Je substanzieller sich die Messen mit dem virtuellen Raum auseinander setzen, desto mehr Quadratmeter werden sie verkaufen und Besucher empfangen können", ist Rainer Wilkens überzeugt.

Herr Wilkens, wie kommen Sie zu dieser These?

Rainer Wilkens: Die Studien vieler Internetpsychologen zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit umso höher ist, dass Menschen sich Face to Face sehen möchten, je länger sie sich virtuell kennen. Wenn Messen diese grundlegende Erkenntnis strategisch für sich nutzen wollen, müssen sie aber ihre Internetauftritte komplett sanieren. Was wir da heute sehen, sind im Grunde nur reduzierte Online-Dubletten des realen Messeworkflow. Wenn man dieser Tage sogar noch zu Messen aus dem Jahre 2002 herzlich willkommen geheißen wird, dann sind das digitale Ruinen, aber keine virtuellen Messen.

Was bedeutet virtuell?

Virtuell ist etwas, das wir nicht unmittelbar über unsere Sinne, sondern nur über Schnittstellen von Mensch und Maschine - über Interfaces - wie den Bildschirm erfahren können. So etwa ist das durch Internet erzeugte "globale Dorf" nicht mehr an Begrifflichkeiten wie Örtlichkeit, räumliche Ferne oder Nähe gebunden, aber dieses Dorf ist eben nur virtuell.

Mit dem Begriff vom globalen Dorf spielen Sie bereits auf das Verständnis von virtuellem Raum an. Wieso ist der für Messen so wichtig?

Weil Internet und Messehallen eine Gemeinsamkeit haben, die zu strategischen Synergieeffekten führen könnten. Sowohl der temporäre Kommunikationsraum Messehalle als auch das digitaltechnisch erzeugte Diskussionsforum im Internet sind reine Kommunikationsprozessräume. Sie entstehen allein durch Beziehungsgeflechte. Erst der Kommunikationsprozess lässt also den Raum an sich entstehen. Die Chance zur Virtualisierung einer Messe liegt darin, Raum nicht mehr nur als einen geografischen Ort, sondern als Interaktionsprozess zu verstehen.

Ihnen geht es besonders um die Gestaltung von Interaktion im Sinne eines aufeinander bezogenen kommunikativen Handelns von Menschen?

Ja, es geht mir im Grunde um das, was Messe ausmacht, nämlich die Chance, Kontakte zu knüpfen. Aber im Internet machen die Messen genau das Gegenteil. Statt die Idee der Messe, dass Menschen miteinander in individuellen Kontakt kommen können, auch im Internet umzusetzen, begegnen wir ausgerechnet dort einem Broadcasting-Medienmodell à la "Ein Sender - viele Empfänger".

Zum Beispiel?

Nehmen wir die "Branchenportale". Hier sind Online-Redaktionen eifrig dabei, das Fachverlagswesen der Branche neu zu erfinden. Es kann nicht darum gehen, mit dem Verlagswesen zu konkurrieren und selbst Fachinhalte zu erstellen und zu distribuieren. Das nämlich gestaltet keine Interaktion unter den Nutzern eines Portals. Messeredaktionen sollten Diskussionen über die von Verlagen publizierten Inhalte initiieren. So würde man das Medienmodell des Internet "Jeder kann Sender und Empfänger sein" auch wirklich nutzen.

Ihnen geht es also um offene "Meinungsmarktplätze"?

Das ist der Kerngedanke des Netzes. Gerade Messen leben vom Mythos, dass sie die Branchenwirklichkeit widerspiegeln, wobei sich die Messen grundsätzlich aber von ihrer Marketingideologie lösen müssen, dass Wirklichkeit oder das für das People-Business so wichtige zwischenmenschliche Vertrauen primär durch Face-to-Face-Kommunikation geschaffen wird. Immer deutlicher sehen Medienwissenschaftler in ihren Studien, dass der immer selbstverständlicher werdende Gebrauch von Telekommunikation zu neuen Wahrnehmungs- und Verhaltensformen in der interpersonalen Kommunikation führt und dass die Grenzen von angesichtiger und virtueller Kommunikation verschwimmen.

Woran können wir das beispielsweise erkennen?

Etwa daran, dass wir sprachlich nicht mehr scharf zwischen "Sprechen" und "Telefonieren" unterscheiden. Das zeigt, dass wir uns mehr und mehr daran gewöhnen, "wirklich" mit anderen Menschen zu sprechen, wenn wir mit ihnen telefonieren. "Ich habe gestern mit ihm gesprochen", kann sowohl bedeuten, dass ich mich gestern mit ihm traf, als auch, dass ich telefonierte. Die nicht mehr gegenständlichen Räume, die durch die Nutzung von elektronischen Medien entstehen, stützen beziehungsweise erzeugen Wirklichkeit.

Was bedeutet das für die Internetstrategie der Messen?

Wenn Face to Face nicht mehr das einzig wahre Kriterium für "Branchenwirklichkeit" ist, müssen Messen ihre Rolle als branchenspezifische Wissensumschlagplätze auf den virtuellen Raum ausdehnen. Aber nicht so, wie sie es bisher tun, sondern sie müssen das grundlegende Messemerkmal der vielen individuellen Kontaktchancen auf das Internet übertragen.

Wie?

Durch ein gutes Themenmanagement müssen interaktive Projekte entwickelt werden, die Menschen mit thematisch gleichen Interessen zusammenführen. Der strategische Kern liegt in der Erkenntnis, dass Kontakte, die übers Netz geschlossen werden, verstärkt dazu führen, dass man sich auch in "Real Life" begegnen möchte. Virtuelle Messen müssen das Bedürfnis generieren, sich auf der realen Messe vor Ort zu treffen. Das Kennenlernen von Menschen ist der entscheidende Punkt für den Erfolg der interaktiven Medien.

Was könnten das für Projekte sein?

Im Grunde fast alle Instrumente des Wissensmanagements wie etwa "Expertenverzeichnisse", aber auch Projekte, die sich mit der Zukunft der Branche beschäftigen. Methoden wie etwa "virtuelle Delphi-Foren", die Input von möglichst vielen Teilnehmern erfordern, wären prädestiniert für Messen, denn gerade sie verfügen aufgrund ihrer Internationalität wie kaum eine andere Institution über so gute globale Kontaktinfrastrukturen. Gerade in Branchen mit sich dramatisch verkürzenden Wissenshalbwertzeiten könnten Messen so Themenführerschaft in ihren Zielbranchen erzielen.

Wo sehen Sie die Kompetenz von Messen im virtuellen Raum?

Auf alle Fälle nicht in der Transaktion oder im e-Procurement-Umfeld, wie das in der "Marktplatz"-Diskussion immer wieder mal durchschimmert. Wenn wir unter Kernkompetenz nicht nur das fachliche Know-how von Managern, sondern, wie es mal im "Harvard Business Manager" stand, auch deren "geistige Vorstellungswelten und Überzeugungen" verstehen, so komme ich immer wieder auf den zentralen Gedanken des Gestaltens von Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten von Menschen zurück.

Die Fragen stellte Anja Müller.

m+a report Nr.8 / 2003 vom 10.12.2003
m+a report vom 10. Dezember 2003