Offen für die Welt

Michael A. Radtke ist weit mehr als Schöpfer des Afrikapavillons auf der Expo. Seine Projekte kennzeichnen ein Denken in vielen Dimensionen über Architektur hinaus.

"Die Architekturausbildung in Deutschland ist fast einmalig auf der Welt mit ihrer gesamtheitlichen Ausrichtung. Im englischsprachigen Bereich läuft der Architekt mit Anzug und Fliege herum und entwickelt große Designideen. Wenn man ihn fragt, wie man seine Pläne umsetzen soll, sagt er: Das ist nicht meine Sache. In Deutschland wird auch gelehrt, wie das funktioniert. Das vermittelt eine umfassende Sicht- und Herangehensweise", sagt Michael A. Radtke. Der Architekt im Sinne eines Baumeisters sei einer der wenigen Berufe, in denen ein Generalist gefordert ist. Der, wenn er seine Ausbildung ernst genommen habe, nicht nur tolle Konzepte und Entwürfe mache, sondern auch weiß, was technisch machbar ist, was Sachen kosten, wie man Projekte finanziert und insbesondere wie man erfolgreich mit den beteiligten Partnern umgehe. "Eine solche Herangehensweise gibt es nur bei uns, das ist ,Made in Germany'!", so der Düsseldorfer Architekt. Die Ausbildung sei ein gutes Fundament. Sein Appell: "Ich kann jungen Architekten nur empfehlen: Geht hinaus in die Welt und macht euch offen. Stellt euch dem Wettbewerb, macht die Augen auf. Ihr habt so viel zu bieten. Wer jammert oder sich auf Lorbeeren ausruht, der hat eine fast einmalige Chance vertan. Zeigt euch im internationalen Markt und stellt euch. Dann kann Deutschland seinen Wissensvorsprung halten und ihn ausbauen. Dann bedeutet Deutschland auch weiterhin Qualität und Innovation."

Radtke weiß, wovon er redet. Den Umgang mit anderen Kulturen lernte der gebürtige Schwabe von Kindesbeinen an. Im Jahr 1963 stellte sich sein Vater neuen beruflichen Herausforderungen als Arzt und übersiedelte mit seiner Familie nach Tansania. Und so lernte der heute 54-Jährige, der in eine rein afrikanische Schule ging, Land und Leute in einer Tiefe kennen und lieben, die niemand erreichen kann, der sich dem Kontinent nur als Tourist nähert. Nach dem Abitur in Kenia kehrte er nach Deutschland zurück, wo er mit einem Begabtenstipendium an der Stuttgarter Universität in Rekordzeit sein Architekturstudium absolvierte. Mit seiner Diplomarbeit machte Radtke schon 1978 deutlich, dass "Projekte von der Stange" nicht seine Sache sind. Er befasste sich mit der sinnvollen Nutzung von Restholz aus dem industriellen Holzeinschlag im indonesischen Kalimantan für die Bauindustrie. Tenor: Wie können die ureigensten Ressourcen eines Landes sinnvoll für dessen Weiterentwicklung genutzt werden? Ein ungewöhnlicher Ansatz in einer Zeit, die von einer extrem starken Technikgläubigkeit geprägt war und noch lange bleiben sollte.

Seine berufliche Laufbahn startete der Multikulturelle bei Lippsmeier + Partner in Düsseldorf. 1980 kehrte er im Auftrag des Architekturbüros nach Tansania zurück, um dort ein großes Bauprojekt und die dortige Niederlassung zu leiten. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland als Leiter des Düsseldorfer Büros von Lippsmeier + Partner befasste sich Radtke insbesondere mit Messe- und Ausstellungsdesign. Drei Jahre später machte er sich dann mit seiner jahrelangen Erfahrung in Sachen tropische Bauweise und Messebau mit dem Architekturbüro MAR Architects in Düsseldorf selbstständig. 1993 begann die erfolgreiche Zusammenarbeit mit L'Tur, die Umsetzung des von ihm entwickelten Redesigns für die europaweit 130 Shops dauert heute noch an.
Im Auftrag der Messe Stuttgart International entwickelte er für 18 deutsche Automobilzulieferbetriebe einen einheitlichen Messeauftritt auf der Tokyo Motor Show. Statt auf einem Messestand nun in verschiedenen Bereichen die Produkte der einzelnen Unternehmen zu zeigen - und damit der Alltäglichkeit eines Messestandes preiszugeben -, konzipierte Michael Radtke eine einheitliche Präsentation der Automobilzulieferer in Form eines überdimensionalen Spielzeugautos in bunten Bonbonfarben, eine Art "gläsernes Auto ohne Glas". So zeigten beispielsweise die Zulieferer von Autolampen vorn an diesem ungewöhnlichen "Auto“ ihre Produkte, die Stoßdämpferhersteller seitlich und hinten die Produzenten von Auspuffanlagen. Dieser ungewöhnliche Messeauftritt zog nicht nur Scharen von Besuchern an, sondern bildet als Logo seit langen Jahren die Grundlage des Auftritts der Automobilzulieferer in der japanischen Öffentlichkeit - ein gelungenes, kompaktes Zusammenbringen von Form, Farbe, Logo und Inhalt.
In diesen Jahren arbeiteten Radtke und seine sieben Mitarbeiter unter anderem für die Bundesrepublik Deutschland bei den Expos in Sevilla und Lissabon, zeichnen verantwortlich für den Bau von Messe- und Ausstellungshallen auf dem ganzen Globus. Da die Kunden zunehmend mit dem Wunsch nach integrierter Planung und dem Management von internationalen Messeauftritten herantraten, wurde die GmbH MAR Exhibition Management gegründet, um als Durchführungsgesellschaft komplette Messe, Show- und Veranstaltungsplanung aus einer Hand anbieten zu können. Die zunehmend komplexer werdenden Aufträge gipfelten dann 1999 in der Gründung eines Projektbüros in Hannover, um die über 15 Projekte zu steuern, mit denen das Team im Rahmen der Expo 2000 Hannover beauftragt worden waren.

Das herausragendste und aufwändigste Projekt bisher war die Planung, Gestaltung und Umsetzung des Afrikanischen Pavillons, die dem Team einen ADAM einbrachte. Die Präsentation trug zwei Dingen Rechnung: der Neudefinition des "Produkts Weltausstellung", die sich immer mehr entfernt von der technischen Leistungsschau der Industrienationen hin zu einer internationalen Plattform des Sichkennenlernens. In erster Linie jedoch zeigte sie Afrika, den unbekannten, fremden Kontinent, von einer ganz neuen Seite: nicht als Nehmender, sondern als Gebender. Afrika, das dem Konzert der Völker der Welt auf der Expo ein Geschenk macht: sich selbst - entsprechend dem Motto der Afrikahalle "Gift of Africa - Das Geschenk Afrikas". Die Präsentation, im Grundriss der afrikanischen Landkarte folgend, zeigte nicht etwa das, was jeder von dem Kontinent zu wissen glaubt, nämlich Völkermord, Hungersnot, Aids, aber auch die Naturschönheiten von Kilimanjaro und der Serengeti, sondern das unbekannte Afrika, dessen große Stärke seine soziale Kultur ist, seine Musik, seine Tänze, seine Symbole, seine bunten Muster auf den traditionellen Stammesgewändern - alles in allem ein Festival für die Sinne, bei dem nichts so war, wie man es von einem "klassischen Expoauftritt" erwartete. Die immaterielle Kultur Schwarzafrikas wurde auf ebenso aufregende wie nachdenklich machende Weise lebendig. Viele Besucher kippten dort ihre tief sitzenden Vorurteile über Schwarzafrika über Bord. Durch diese sensible Art der Präsentation wurden Denkprozesse losgetreten, die der Entwicklung eines neuen, realistischeren Bildes der Industrienationen von Afrika in hohem Maße dienlich waren. Und das ist weit mehr als das, was man eigentlich von einem Messearchitekten erwartet.

Als logische Konsequenz der Expo-Aktivitäten in Hannover wurde schließlich MAR Concepts ins Leben gerufen, um ähnlich komplexe Konzepte wie die des Afrikapavillons entwickeln zu können, die weit über die klassischen Anforderungen an ein Architekturbüro hinausgehen. Und so wurde Michael Radtke vom zuständigen Bundesministerium in den Kreis der zehn Kreativagenturen aufgenommen, die in einem beschränkten Wettbewerb Konzepte für den deutschen Pavillon für die Expo 2005 in Aichi/Japan erarbeitet haben.
Derzeit arbeiten die Düsseldorfer mit Hochdruck an dem dortigen Afrikapavillon. Als Projektkoordinator und -producer hat Radtke die Aufgabe, nicht nur den konkreten Auftritt Afrikas auf der Expo in Japan zu planen und umzusetzen, sondern noch etwas viel Größeres: Das Aufeinanderzuführen und Zusammenbringen zweier sehr gegensätzlicher Kulturen, der Japans und der Afrikas.
Die Arbeiten verbinden ein tief greifendes architektonisches Wissen mit einem ausgeprägten Gespür für die Besonderheiten von Menschen aus unterschiedlichsten kulturellen Zusammenhängen. Bei all seinen Projekten setzt das Multitalent, das mehrere Instrumente spielt, auf ein freies Netzwerk aus Spezialisten in der ganzen Welt, meist Architekten mit mehrsprachigem, kulturenübergreifendem Hintergrund, der ihnen bei ihren Projekten das Denken in vielen Dimensionen weit über die Architektur hinaus erlaubt. Was schließlich wiederum die anspruchsvolle Unternehmensmaxime von MAR rechtfertigt: "Quality at all levels in international and intercultural networks." Antje PetersReimann

m+a report Nr.8 / 2004 vom 08.12.2004
m+a report vom 8. Dezember 2004