Wichtige Stationen der Eigenbiographie

Große Potenziale, die der Reflektion bedürfen: Auf dem Weg von der Informations- in die Wissensgesellschaft können Messen große Rollen spielen.

"Die Informationsgesellschaft hat ihren Reiz verloren und wird sukzessive durch das Konzept der Wissensgesellschaft ersetzt", sagte Gernot Wersig, Professor der FU Berlin auf der 21. Messe-Fachtagung in Wiesbaden. Die Wissensgesellschaft unterscheide sich von der Informationsgesellschaft in einem wichtigen Punkt: Dem Wissen trete gleichberechtigt das Unwissen an die Seite, das vor allem der Zukunft gilt - Gentechnik sei ein gutes Beispiel, so Wersig: "Wir können es, weil wir viel wissen, aber was daraus wird, weiß man nicht". Bedeutsamer aber sei, dass uns das Wissen zurückverweise an die Menschen.Die menschliche Biographie werde durch Wissen. Das geschehe bisher aber meist eher unbewusst und ungezielt - und werde in Zukunft nicht mehr reichen: "Die eigene Biographie wird gezielt als Wissenserwerbs- und -nutzungsbiographie zu planen sein." Wersig: "So wie Industriestaaten zu begreifen beginnen, dass Wissen ihr Hauptkapital im Wettbewerb mit den aufstrebenden Nationen darstellt, werden die Menschen begreifen müssen, dass das Hauptkapital, das man mit dem Alterungsprozess ansammeln kann, Wissen ist."

In der Wissensgesellschaft zähle nicht nur das fachliche, technische Wissen, sondern auch das moralische, das ästhetische, das soziale, das strategische, und auch das transzendentale (was gibt dem Handeln Sinn). Eigenbiographien würden nicht nur gelebt, sondern vor allem konstruiert, durch ständige Reflektionsarbeit rekonstruiert, uminterpretiert, neu geschrieben. Der Mensch in der Informationsgesellschaft lebt für einen Beobachter mehrere Biographien. Die Zeitstrukturierung werde immer weniger vorgegeben. Damit entsteht das Problem der Synchronisierung vieler unterschiedlich gestalteter Biographien. "Es ist Aufgabe geeigneter Medien, Biographien zu synchronisieren - Treffmedien wie Messen kommt natürlicherweise eine besondere Rolle zu", so Wersig. "Das Überleben in der Informationsgesellschaft ist keine einfache Sache. Bei der materiellen Basis, die wir haben, handelt es sich nicht vordringlich um ein materielles Überleben sondern ein kulturelles, in dem die Menschen sich befähigen, müssen in all diesen Wandlungen ihre individuellen Wege zu finden, die ihnen das Gefühl vermitteln, aus sich etwas gemacht zu haben, das sie nicht geworden wären, wenn sie es nicht selbst gemacht hätten, sagte der Berliner Professor.

Was das Medium Messe unter diesen Bedingungen für Menschen tun kann? Für Gernot Wersig ist die Antwort "ganz einfach": Messen können Ereignisse sein, die zu wichtigen Stationen der Eigenbiographien werden. Das bedeutet, es ist nicht so wichtig, wie viele Prospekte die Besucher, sondern welche Erinnerungshöhepunkte sie mitnehmen. Das bedeutet für die Kommunikationswissenschaftler: erinnerungswerte Highlights, Personalisierung, die man mitnimmt, Anlässe von der Messe aus mit dem Multimedia-Handy Erinnerungen aufzunehmen oder Hinweise weiterzugeben. In diesem Sinne ergebe sich für die Messe ebenso ein Spagat wie für die Menschen: einerseits sei es aus ökonomischen Gründen wichtig, vor allem die Menschen ins Visier zu bekommen, damit sie die Messe besuchen, andererseits sei es aber genauso wichtig, sich auf die Menschen zu konzentrieren, wenn sie die Messe verlassen, damit sie sie nicht nur als Besucher verlassen, sondern als Menschen, in deren Biographie gerade etwas Wichtiges geschehen ist. Messen schaffen für einen begrenzten Zeitraum Gemeinschaften, ohne dies in diesem Zeitraum besonders zu unterstützen. Messen sind aber in den meisten Fällen auch periodische Medien. Tatsächlich verfügten sie über viele Potenziale für eine starke gemeinschaftsbildende Kraft, die noch deutlich weiter genutzt werden könnten. Für die Aussteller sei es dagegen wichtig, denjenigen, die zu der Gemeinschaft ihrer Kunden gehören sollen, dieses Gemeinschaftsgefühl am Stand und bis nach Hause zu vermitteln. Messe sei eine besondere Gelegenheit die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu erfahren, die sonst eher virtuell ist.

Messen sind Medien, die schon immer mit dem Spagat zwischen Rationalität und Wiederverzauberung zu tun hatten, darauf basierte ihr Publikumserfolg auch in der Moderne. Sie seien einer der wenigen Anlässe, an denen man nicht dem schlechten Gewissen ausgeliefert ist, nur weil der Besuch Spaß mache, schließlich habe die Messe ihre rationale Grundlage. Messen haben, vor allem aber auch entsprechend interessierte Aussteller, einerseits wesentliche Beiträge zur Weiterentwicklung von Wiederverzauberungsformelementen geleistet, die sich aber nur indirekt verbreitet haben, weil sie wenig dokumentiert, wenig als solche weitervermittelt und praktisch auch nicht reflektiert wurden, kritisierte er. Er habe den Eindruck, dass große Potenziale auf den Messen gegeben sind, die nunmehr der Reflektion bedürfen, "weil sie sich einfach nur entwickelt haben, ohne zu einer Strategie geworden zu sein".

Die Formel vom "Überleben in der Informationsgesellschaft" gelte auch für Medien. Alte Medien stünden nicht nur gegen neue, sondern auch alte gegen alte und neue gegen neue. Das Schlagwort der "Medienkonvergenz" bedeute im Kern, dass existierende Medien verschwinden könnten. Wersig: "Das ist sicherlich für Messen und Messeorte grundsätzlich nicht zu erwarten, aber das Schicksal, das den meisten "alten Medien" droht, ist die Abdrängung in die (meist luxuriöse) Nische. Das wäre schade, denn als Medium ist die Messe einzigartig, weil sie nur bedingt programmierbar, sondern immer eine Versammlung unterschiedlicher Angebote ist, die das Gesamtbild der Messe ausmachen."

m+a report Nr.5 / 2004 vom 13.08.2004
m+a report vom 13. August 2004